M. Häussler: Der Genozid an den Herero

Cover
Titel
Der Genozid an den Herero. Krieg, Emotion und extreme Gewalt in "Deutsch-Südwestafrika"


Autor(en)
Häussler, Matthias
Reihe
Schriftenreihe "Genozid und Gedächtnis" des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung der Ruhr-Universität Bochum
Erschienen
Weilerswist 2018: Velbrück Wissenschaft
Anzahl Seiten
348 S.
Preis
€ 38,90
von
Tanja Bührer

Matthias Häussler untersucht in seiner 2018 an der Universität Luzern eingereichten Dissertation die viel diskutierte Frage des Genozids an den Herero, den die deutsche Regierung mittlerweile anerkannt hat. Häussler arbeitet sich vor allem an den Fragen ab, wie es zu dieser selbst im kolonialen Kontext aussergewöhnlichen Gewalteskalation kommen konnte und wann sie als genozidal bezeichnet werden muss. Dabei konzentriert er sich auf die entscheidende Kriegsphase im Jahre 1904.

Häussler vermag durch seine multiperspektivische Betrachtungsweise, die sich auf eine breite Quellenbasis stützt, neue Erkenntnisse zur Forschungsdebatte beizutragen. Er berücksichtigt nicht nur die behördliche Korrespondenz sowie Zeitungen der deutschen Siedler, sondern auch Berichte von Missionen und britischen Behörden, die eine Aussenperspektive ermöglichen, allerdings die weitgehend fehlenden afrikanischen Stimmen nicht ersetzen können. Zudem hatte der Autor einen fast exklusiven Zugang zu dem in einem Familienarchiv lagernden Tagebuch von Lothar von Trotha, dem Gouverneur Deutsch-Südwestafrikas. Häussler verfolgt in seiner Untersuchung eine Vielzahl unterschiedlicher methodischer Zugänge, die man selten in einer Studie vereint findet: Ansätze der Gewaltsoziologie, der historischen Anthropologie, der Militär- und Operationsgeschichte sowie der Emotionsgeschichte.

In der Einleitung stellt Häussler Überlegungen zu drei Aspekten an, die den analytischen Referenzrahmen seiner Studie bilden. Die ältere Genozidforschung wird erstens der «Komplexität» und der Dynamik der Ereignisse nicht gerecht, weil sie sich in einer einseitigen top down-Täterperspektive auf Intentionalität und deterministische Prozesshaftigkeit fokussiert und so die Gewaltausübungen subalterner sowie nichtstaatlicher Akteure ausblendet. Der Krieg fiel zweitens in die Hochphase des «Rassenrassismus» (S. 22), in der selbst vorgeblich humanitäre Sichtweisen Afrikaner*innen nur in ihrem Nutzen für Kolonialprojekte betrachteten. Drittens sind auch «Emotionen» als «eigensinnige Antriebsquellen von Gewalt und Grausamkeit» (S. 28) zu berücksichtigen.

Die Arbeit gliedert sich nach der Chronologie der Gewaltprozesse, wobei jedes Kapitel spezifische Akteursgruppen ins Zentrum rückt. Das erste Kapitel widmet sich der privatisierten Frontier-Gewalt der Siedler, die das staatliche Gewaltmonopol sowie die indirekte Herrschaftsstrategie gegenüber afrikanischen Autoritäten unterminierte. Die Komplizenschaft der Siedler mit subalternen Schutztruppenangehörigen führte dazu, dass Siedlergewalt gegenüber Afrikaner*innen meist straffrei ausging und zum Alltag gehörte. Aus Sicht der Herero war der Kolonialstaat mit seinem Versprechen auf Recht und Ordnung nicht mehr erkennbar. Häussler macht darin nicht nur eine der Ursachen für den Widerstandskrieg der Herero aus, sondern auch eine «Spirale von Gewalt und Gegengewalt » (S. 38), lange bevor Trotha das Kommando übernahm.

Das dritte Kapitel behandelt den strategischen Horizont der wichtigsten Akteure. Gouverneur Theodor von Leutweins koloniale Kriegführung vor 1904 verlor nie die wirtschaftlichen Interessen aus dem Blick und war auf lokale Gewaltkulturen eingestellt, so dass er in Rückzügen und Verhandlungsbereitschaft nichts Ehrenrühriges sah. Politische und militärische Instanzen in der Metropole empfanden jedoch den afrikanischen Widerstand als Affront und sahen allein in der bedingungslosen Unterwerfung der Herero die Möglichkeit zur Wiederherstellung der nationalen Ehre. In einem Exkurs reflektiert Häussler das den Diskurs prägende Konzept des «Vernichtungskriegs». «Vernichtung» bedeutete grundsätzlich die Wehrlosmachung des Gegners, dennoch war darin Eskalationspotential enthalten, da das oberste Ziel des militärischen Sieges das politische Kalkül zu überformen drohte und auf die Auslöschung des Gegners als politische Einheit zielte. Die Unterstellung der kolonialen Exekutive unter den Grossen Generalstab und die persönliche Auswahl Trothas zum Kommandeur der Schutztruppe durch den Kaiser, markierten den Transfer des Primats des Militärs auf das Schutzgebiet. Trotha verfolgte von Beginn weg einen politischen Vernichtungskrieg, in dem er die «Unterworfenen durch den blutigen Beweis der überlegenen Gewalt […] unter eine Ordnung» (S. 126) pressen wollte.

Trothas Versuch, den von Berlin verordneten Vernichtungskrieg im südwestafrikanischen Feldzug umzusetzen, ist Gegenstand des vierten Kapitels. Durch die Ansammlung der Herero am Waterberg sah der Kommandeur die Möglichkeit einer konventionellen Vernichtungsschlacht entlang preussisch-deutscher operativer Doktrinen. Die getrennte Bewegung aufgeteilter Truppenteile und ihre Koordinierung zu einem konzentrischen Angriff funktionierte jedoch auf dem afrikanischen Kriegsschauplatz nicht und die Herero entzogen sich der geplanten Einkreisung durch Flucht. Erst nachdem Verfolgungsoperationen erneut scheiterten, erhielt Häussler zufolge der Vernichtungsbegriff die Bedeutung der physischen Ausrottung. Die genozidale Gewalteskalation kann demnach nicht einfach auf einen eliminatorischen Rassismus zurückgeführt werden. Aber auch rein situative Erklärungen und Isabel Hulls Deutung einer sich verselbständigenden preussisch-deutschen Militärkultur greifen gemäss Häussler zu kurz. Stattdessen betont er den gewalttreibenden Einfluss der nach diesen Misserfolgen einsetzenden Scham-Wut-Spirale, da gerade die wilhelminischen Eliten eine hohe Affinität zur gewaltsamen Bewältigung der Scham aufwiesen.

Das fünfte Kapitel zum Kleinen Krieg nach Waterberg wechselt die Perspektive auf die genozidale Gewalt von unten, die Häussler ebenfalls durch emotionsorientierte Ansätze erklärt. Die Kleinkriegführung, die sich zu Scharmützeln kleinerer Detachements fragmentierte, hing von der Initiative des einzelnen Soldaten ab und war mit Ungewissheiten, Unübersichtlichkeiten, Misserfolgen sowie dem Vertrauensverlust in die Vorgesetzten verbunden. Angst, Frustration und Wut entluden sich in einem Überschuss brutalisierter Gewalt, die durch die Duldung von oben normalisiert wurde. Das letzte Kapitel zur Lagerherrschaft setzt bei der im Dezember 1904 eingeläuteten Wende zurück zum Primat der Politik ein. In der fortgesetzten Gewalt der Lagerherrschaft sieht Häussler jedoch keine Kontinuität des Genozids.

Überzeugend belegt Häussler seine Hauptthesen, wonach die Gewalteskalation aus dem komplexen Wechselspiel verschiedene Akteursgruppen mit ihren je eigenen Handlungslogiken zu verstehen ist. Ausserdem erklärt er das Umschlagen in die genozidale Kriegsphase, die er später als die bisherige Forschung datiert, aus einer emotionalen Bewältigung der operativen Misserfolge durch Gewalt von oben wie von unten. Auch wenn ein empirisch so gewissenhafter Wissenschaftler wie Häussler vermutlich Skrupel hatte, sich in der Debatte zur Kontinuität der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zu positionieren, hätte man doch eine Bezugnahme dazu erwarten dürfen. Zudem vermisst man eine Auseinandersetzung mit der namibischen Forschung. Trotz dieser Mäkeleien handelt es sich bei dem vorliegenden Buch um ein gut lesbares Standardwerk, hinter das die Forschung nicht mehr zurückgehen wird.

Zitierweise:
Bührer, Tanja: Rezension zu: Häussler, Matthias: Der Genozid an den Herero. Krieg, Emotion und extreme Gewalt in Deutsch-Südwestafrika, Weilerswist 2018. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (1), 2022, S. 164-166. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00102>.

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